Dr. Stephan N. Barthelmess

Elisabeth Brügger – Interventionen zur Schöpfung

Aber wenn er dazwischen kommt… (1)

„…eine Schöpfung lässt sich gar nicht ordentlich denken“ (2)


Die 1966 geborene Bildhauerin Elisabeth Brügger thematisiert eine der zentralen religionsphilosophischen Fragen der Genesis bereits zu Beginn ihrer Vorbereitungen des Projektes ‚Interventionen zur Schöpfung’. Es ist die Frage nach der Existenz Gottes, die mit der Verbindung zwischen den Ursprungsmythen der Genesis und ihrer Überlieferung einhergeht.


Es ist noch nicht so lange her, da wurde ich einmal von einem siebenjährigen Mädchen gefragt, wie es möglich sein kann, dass in der Bibel Geschichten erzählt werden, obwohl der Mensch sie noch gar nicht erleben konnte, weil Gott den Menschen ja erst erschaffen hat, und wie konnte Gott als der Schöpfer der Welt erkannt werden, wenn niemand da war, ihn zu erkennen? Meine Antwort, dass sich die Menschen seit Urzeiten solche Geschichten von der Erschaffung der Welt erzählten und sie eben dann einmal von jemandem aufgeschrieben wurden, befriedigte das kleine Mädchen nicht wirklich, im Gegenteil, es machte das Mädchen noch nachdenklicher.


Elisabeth Brügger liefert aus ihrer Sicht zu diesen Fragen eine eigene Interpretation und beruft sich, wie es auch Johann Gottlieb Fichte in seiner 1806 erschienenen religionsphilosophischen Abhandlung über ‚Die Anweisungen zum seligen Leben’ getan hat, auf den ‚Prolog’ des Johannes Evangeliums. Sie formuliert damit Gedanken, die den religionsphilosophischen Rahmen des Projektes abstecken: „Mit seinen Gedanken gestaltet sich der Mensch die Welt immer neu. Die Bewusstheit der Gedanken bedingt die Bewusstheit der Erfahrungen in dieser Welt. Dem Projekt liegt der Beginn des Prologs des Johannes- Evangeliums zugrunde, in dem es heißt: ‚Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott…’. Das Wort, also der Geist, ist hier der Urbeginn der Schöpfung. Ist dann nicht die gesamte Welt ein geistiges Gebilde, und der Mensch selbst ein geistiges Wesen?“ (3)

Mit diesem Kommentar stellt die Künstlerin ihr Projekt gleich zu Beginn in einen religionsphilosophischen Kontext, der einerseits auf die Bedeutung des Wortes ‚Religion’ verweist und andererseits damit den Zusammenhang zwischen ‚Wissen’ und ‚Sein’ andeutet. Das auf das lateinische Wort ‚religio’ zurückgehende Wort Religion bezeichnet ein ‚Lesen’, das durch das immer von neuem wiederholende Lesen eine genaue Kenntnis eines Textes erreicht, wie es seine Zusammensetzung aus ‚re-’ und ‚ligio’, abgeleitet von dem Verb ‚legere’, ‚lesen’, nahe legt. Dieses gewissenhafte, immer wieder von neuem Lesen gehörte zu den wichtigsten Aufgaben benediktinischer Klosterregeln, die neben ‚Arbeiten’ und ‚Beten’ eben auch das ‚Lesen’ stellte.


Der Hinweis auf den Prolog des Johannes Evangeliums stellt das ‚Wort’, den ‚Logos’ wie es im griechischen Originalwortlaut steht, an den Anfang. Ob ‚Logos’ hier nun mit ‚Wort’, ‚Vernunft’ oder ‚Weisheit’ bezeichnet wird, wie es Johann Gottlieb Fichte im 6. Kapitel seiner oben erwähnten religionsphilosophischen Abhandlung getan hat, spielt eher eine untergeordnete Rolle. Wichtig erscheint hier, dass das ‚Wort’ als eine Ganzheit ursächlich in der Schöpfung verortet ist, ja selbst Ausgangspunkt und Wirkungszentrum der Schöpfung ist. Der Mensch aber spricht das Wort, er spricht durch das Wort und mit dem Wort. Das Bewusstsein ist ihm durch das ‚Wort’ gegeben. Im Johannes Prolog geht das Wort im Sein auf und wird mit dem ‚Höheren’ gleichgesetzt. Nach Fichte ist dann der Akt des Sprechens ein ‚bei Gott Sein’ des Menschen und damit gleichzeitig der Beweis Gottes: „Dieses – bei Gott Sein nun, nach unserem Ausdrucke dieses Dasein, wird ferner charakterisiert als Logos oder Wort. Wie könnte deutlicher ausgesprochen werden, dass es die sich selbst klare und verständliche Offenbarung und Manifestation, sein geistiger Ausdruck sei, - dass, wie wir dasselbe aussprachen, das unmittelbare Dasein Gottes notwendig Bewusstsein, teils seiner selbst, teils Gottes sei; wofür wir den strengen Beweis geführt haben.“ (4)


Der Künstler aber ‚kommt dazwischen’, er interveniert und schafft dabei neue Voraussetzungen, sich die Welt neu zu denken. So lautet es in dem Kommentar von Elisabeth Brügger dann auch weiter: „Indem Besucher einen eigenen Gedanken oder ein Wort auf Papier schreiben und als Zutat in die ‚Ursuppe’ geben verändern sie den geistigen Gehalt der ‚Ursuppe’ und wirken an einem Schöpfungsprozess mit, an dem sie Teilhaber geworden sind. So sind in der ‚Ursuppe’ Geist und Materie zunächst gestaltlos vereint.“ (5)


Die ‚Intervention’, die sich neben Performance, Aktion und Installation als eine weitere künstlerische Ausdrucksform der Bildenden Kunst behauptet hat, bildet, in der Arbeit Elisabeth Brüggers, den auch konzeptionell sich unterscheidenden Gegenpol zur ‚Installation’. (6) Das aus dem Lateinischen ‚intervenire’ herrührende Substantiv ‚Intervention’ bezeichnet im treffenden Wortsinn ein ‚Dazwischengehen’, ein ‚Sicheinschalten’, den bewussten Eingriff in bestehende Zustände, wie sie in der ‚Installation’ dem Besucher vorgeführt werden. Hierbei liegt der Schwerpunkt wie bei der Performance weniger auf den zurückbleibenden Objekten als auf der zurückliegenden Aktion. Die Intervention in der Bildenden Kunst hat immer auch einen Bezug zur Öffentlichkeit. Sie kann bestehende Zustände in einen synergetischen Zusammenhang führen, wenn sie einen innen- oder außenräumlichen, architektonischen oder städtebaulichen Bezug hat, wie bei Daniel Buren, Christo Javacheff oder Eberhard Bosslet, der die

‚Intervention’ bereits in den 1980er Jahren als künstlerische Ausdrucksform wieder aufgriff. So bediente sich schon die am 27. Oktober 1960 gegründete Künstlergruppe ‚Nouveaux Réalistes’, mit ihren Aktionen im öffentlichen Raum, dem ‚Aufsprengen’ bestehender Zustände der Wirklichkeit als neuem Weg für die Annäherung an eine veränderte Wahrnehmung des Realen, der ‚Intervention’ als künstlerische Ausdrucksform. Jede Art von unterschiedlichsten Materialien als auch Gegenstandsloses wie Zeit, Licht, Klang, Sprache und Bewegung im Raum können bei einer Intervention Verwendung finden. Insofern sind die ‚Interventionen zur Schöpfung’ der bewusste Eingriff in eine bestehende Wirklichkeit der Welt. (7) Interessant erscheint nun, dass das Substantiv ‚Schöpfung’ ethymologisch zurückgeht auf die Verben ‚schaffen, erschaffen, bewirken, schöpfen, formen und bilden’, wobei die germanische und die indogermanische Wurzel auch ‚ordnen’, ‚schneiden und spalten’ nahe legt. (8) Es ist also dieses bewusste, aktive Element der ‚Intervention’, des Eingriffs, das in dem Wort Schöpfung bereits selbst enthalten ist. Das Bestehende wird durch die Intervention neu geordnet. Dabei ist es aufschlussreich zu sehen, dass Elisabeth Brügger mit Ursuppe auch Assoziationen auf die physikalisch-astronomische Erklärung der ‚Erschaffung der Welt’ (Schöpfung) weckt. Im ‚Tagebuch einer Ursuppe’, das während der Installation von ‚Ursuppe’ zwischen dem 2. April und 1. September 2008 entstand (9) und in dem sich die rechte und die linke Hand in einem Dialog befinden, schreibt die rechte Hand am 19. Mai 2008 auf Seite 5, ab Zeile 3 über den nachdenklichen Heiligen ‚Stephanus’, der in Gedanken versunken den Topf der Ursuppe entdeckt, den Deckel öffnet und darin buntes ‚Konfetti’ findet. In dem nächtlichen Treiben der beiden Corveyer Schutzpatrone ‚Vitus’ und ‚Stephanus’ streuen sie das eigentlich von der Künstlerin für Kinder bereitgestellte Konfetti in den Brei: „Und weil sie eben noch so traurig waren, griffen sie nun hinein. Zunächst steiffingrig mit nur einer Hand langsam das fröhliche Zeug umrührend, wirbelten sie es etwas in dem Topf umher.


Schließlich ließen sie sich die bunten Punkte selig auf die Häupter rieseln. So kam es, dass einiges davon auch in der Ursuppe niederkam. Erschrocken hielten sie inne – ihre hochheilige Suppe, die die Welt neu erfinden sollte, würde womöglich in ihrem Gedankenfluss abgelenkt! … Solange und so viel warfen sie, bis das ganze große Rund abertausendfach schillerte und sich, ohne dass die Heiligen dies in ihrem Rausch bemerkten, immer langsamer drehte.“ (10) Das Bild einer sich drehenden und sich ausdehnenden Materiemasse nach dem Urknall, wird durch das Bild des sich drehenden, schlierenartigen Breis der ‚Ursuppe’ assoziiert, in dem sich die bunten Konfetti, den Zentrifugalkräften folgend, am Rand des Topfes verdichten. (11)


Sind Interventionen und Installation beendet, zerfällt das Werk in seine Bestandteile und ist nur noch dokumentarisch oder durch detaillierte Aussagen von Zeitzeugen zu fassen. Dabei wird deutlich, dass nicht das ‚Können’ der Kunst im Vordergrund steht, sondern, ganz im Gegenteil, der Künstlerin liegt daran, sich von allem technischen und handwerklichen ‚Ballast’, der nur im Entferntesten an Könnerschaft erinnert, zu befreien.


In Elisabeth Brüggers bereits oben erwähntem ‚Tagebuch einer Ursuppe’ schreibt die rechte der linken Hand am 1. Juni 2008: „Schön ist doch, dass der ganze Komplex um ‚Ursuppe’ herum ohne gelernte oder lehrbare künstlerische Techniken auskommt. Jonathan Meese ist ja so alt wie wir, und aus dem sprachs neulich: ‚Ich kann doch die Kunst nicht mit meinem Können belästigen.’ Für mich ist der Satz mit kathartischer Wirkung: Wie soll sich denn die Kunst fortbilden und wie die Welt neu erfinden, wenn die Künstler (nur) nach technischer Vervollkommnung streben und weniger nach dem suchen, das sie nicht können: Ich beherrsche (!) eine Technik – also weg damit ! Jedenfalls dann, wenn ich Kunst machen will. Man braucht ja auch nicht Kunst machen wollen.“ (12)


In dem 1926 in Paris veröffentlichen Gespräch zwischen dem provenzalischen Schriftsteller und Kunstkritiker Joachim Gasquet und dem Maler Paul Cézanne antwortet Cézanne auf die Frage, was es mit dem von ihm erwähntem ‚Dazwischenkommen’ (frz. ‚intervenir’) des Malers auf sich habe: „ Der Künstler ist nur ein Aufnahmeorgan, ein Registrierapparat für Sinnesempfindungen, aber, weiß Gott, ein guter, empfindlicher, komplizierter, besonders im Vergleich zu den anderen Menschen. - - Aber wenn er dazwischengeht, wenn er es wagt, der Erbärmliche, sich willentlich einzumischen in den Übersetzungsvorgang, dann bringt er nur seine Bedeutungslosigkeit hinein, das Werk wird minderwertig.“, woraufhin Gasquet fragt: „ Der Künstler wäre also nach all dem geringer als die Natur?“, worauf Cézanne entgegnet: „Nein, das habe ich nicht gesagt. Schlagen Sie in diese Kerbe? Die Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur. Was soll man von den Dummköpfen denken, die behaupten, dass der Maler immer der Natur unterlegen ist! Er ist ihr nebengeordnet. Wenn er nicht eigenwillig eingreift - verstehen Sie mich recht. Sein ganzes Wollen muss schweigen.“ (13)


So bleibt Elisabeth Brügger in ihren Interventionen immer auf Distanz, wobei Installation und Interventionen als Parallelereignisse zur Natur verstanden werden, weil tagsüber eine ‚singende Amsel’ immer wieder die Nachbarschaft zur Natur in Erinnerung ruft. Parallelität allein aber genügt ihr nicht, durch die Interventionen wird aus Parallelität Integration. Dabei spielt die Wechselwirkung zwischen Publikum und Installation eine entscheidende Rolle, denn die Intensität der Mitwirkung des Publikums ist ausschlaggebend für den inneren, ‚geistigen’ Entstehungsprozess des Werkes und dem Grad der ‚Zurückhaltung’ der Künstlerin. (14) Den Hinweis auf die Arbeit von Jonathan Meese, dem wohl umstrittensten deutschen Künstler der Gegenwart, kommentiert die linke Hand am 2. Juni 2008 noch einmal mit den Worten: „Mit dem könnte man vielleicht etwas Zeit genießen. Und natürlich diese unbedingte, unauslotbare Freiheit der Kunst.“ (15) Damit wird eine Beziehung hergestellt, die der Künstlerin selbst wesensverwandt ist: „J.M. finde ich gut, wenn er spricht, weil er die Kunst feiert und hochhält und ihr alles zutraut - angenehmes Pathos, Begeisterung für und Unterordnung unter die Kunst, lustig ist er dabei auch mal. Die Aktionen und ihr aggressiveres Pathos sind auch wichtig, habe ich noch nicht live erlebt. Der Mann scheint frei. Seine Malerei und Plastiken kenne ich eigentlich nicht. Habe jedenfalls gerne seine Worte ins Tagebuch gelassen...“ (16)


Mit dem Bezug auf Jonathan Meese spricht Elisabeth Brügger das für ihre Arbeit wichtige Verhältnis zur Öffentlichkeit an. Das Publikum lädt sie dabei zum Mitwirken und Teilhaben an der Transformation des entstehenden Werkes ein. Die Unmittelbarkeit der Performance und der Aktion wird bei Elisabeth Brügger zu einem zeitlich und räumlich festgesetzten ‚Dazwischengehen’ (Intervention), was das Publikum nur punktuell erreicht und zur Mitwirkung anstiftet. (17) Dabei vertraut sie auf dasjenige, was E. H. Gombrich in seiner Einordnung zwischen ‚Kunst, Künstler und Publikum’ in der Einleitung zu seiner 1950 erschienenen ‚Story of Art’ beschreibt: „Natürlich sind wir selbst keine Künstler, wir haben vielleicht nie versucht, ein Bild zu malen, und haben wahrscheinlich nicht die Absicht, es je zu versuchen. Und doch heißt das noch lange nicht, dass die Probleme, die den Künstler ständig beschäftigen, uns völlig fremd sind. Es kommt mir sehr darauf an zu beweisen, dass fast jeder Mensch zumindest eine Ahnung davon hat, und sei es in bescheidenem Ausmaß.“ (18) Gombrich beschreibt am Beispiel des Blumenbindens dann weiter, dass im alltäglichen Leben immer wieder diese Momente kommen, in denen wir abwägen, welche Farben zusammenpassen und wie eine harmonische Wirkung erreicht werden kann. (19) Es ist aber der Künstler, der an der Verwandlung der Welt und des Alltäglichen arbeitet und einerseits die Welt aus seiner eigenen Perspektive und seinem selbst erschaffenen Formenrepertoire wiedergibt, ihr Neues hinzufügt und Altes verwandelt, aber andererseits mit aller Kraft, die Mauern der Konventionen, des Gewöhnlichen und der Langeweile niederreißt.


So muss das Museum selbst, als Ort der Kunst, diese Begegnung als ein Grundbedürfnis erst zulassen. Die klassischen Funktionen des Museums führen aber zu einer Isolation des Künstlers vom Publikum, in dem diese einstmals lebendige Unmittelbarkeit einer Historisierung unterzogen wird. Das Museale ist dieser Art von Gegenwart fremd, was hier zählt ist nur die Präsenz der Einheit von Künstler und Werk. Ein Ort aber, der sich seinem Publikum in der Weise öffnet, wie E. H. Gombrich es in seiner Einleitung beschreibt, erzeugt einen neuen Besuchertyp. Ein Besucher, der sich auf den Künstler und sein Werk einlässt, die Begegnung mit dem Künstler sucht und seine alltäglichen Konventionen und Gewohnheiten dem Besonderen öffnet, das ihm zur ‚Teilhabe’ im Museum angeboten wird. Insofern ist der Ort der Kunst, der Ort des Künstlers. In diesem Sinne ist der Künstler Anstifter und Verführer zugleich. (20)


Es erscheint aber noch eine weitere Beobachtung für das Verständnis der Arbeit Elisabeth Brüggers von Bedeutung, die nicht plakativ und vordergründig ins Auge sticht, sondern in den Interventionen selbst, in der Einbeziehung des Besuchers in den ‚materiellen’ und ‚geistigen’ Entstehungsprozess der Arbeit, Ausdruck findet. In dem der Besucher Zeichen, Wörter oder Gedanken auf ein Stück Papier schreibt und dieses in den Topf wirft, die Künstlerin selbst dieses in einem handgeschriebenen Tagebuch kommentiert und beschreibt und zu einem späteren Zeitpunkt einige Zettel aus dem immer dickflüssiger werdenden Papierbrei wieder herausnimmt, um sie in das Tagebuch aufzunehmen, ist der Ablauf selbst ein über mehrere Tage, Wochen und Monate laufender Transformationsprozess. Künstler, Werk und Öffentlichkeit treten in eine produktive Verbindung ein. Manchmal entsprechen sich die Gedanken und Inhalte der Künstlerin im Tagebuch mit den auf die Papierschnipsel geschriebenen Themen und Gedanken der Besucher. (21) Eine Übereinstimmung, die nicht zuletzt auch dem Ort geschuldet ist. Es erscheint wie eine Schnittstelle, wie der Moment der Verschmelzung des Werks mit dem Publikum.


Dabei wirkt die Installation ‚Ursuppe’ in der Summe ihrer Bestandteile als die Spielform eines mittelalterlichen ‚Skriptoriums’, indem das Erstellen eines Tagebuches, das mit dem Erlernen und Erüben der Schrift durch die linke Hand, das mit den von der rechten Hand gegebenen Übungen und der ständigen, strengen Kontrolle einer schönen Lesbarkeit (22) derselben einhergeht, an die klösterlichen Schreibstuben erinnert, die sich bis ins 12. Jahrhundert hinein in den Klöstern befanden und von der sich eine der prominentesten auch in der 822 gegründeten Benediktinerabtei Corvey befand. (23) Wie es eine Abbildung des ‚Schulmeisters von Esslingen mit seinen Schülern’ in der Heidelberger Manessischen Liederhandschrift (Zürich um 1310/40) zeigt, sollten die Schreiber gut lesbare, schöne Schriften beherrschen, was ein Höchstmaß an Disziplin, Konzentration und Übung erforderte. (24) Auch waren in den Skriptorien des Mittelalters keineswegs nur Männer tätig. Auch Frauen wirkten als Schreiberinnen und Malerinnen an der Buchproduktion mit. (25) War Pergament der im Mittelalter gebräuchlichste Textträger, das sich im 4. Jahrhundert n. Chr. wegen seiner Haltbarkeit und Geschmeidigkeit gegenüber dem aus Ägypten stammenden Papyrus durchgesetzt hatte, so setzte sich im Verlauf des 13. Jahrhunderts Papier als Schreibstoff durch, das als ursprünglich chinesische Erfindung durch Vermittlung der Araber über Spanien in das Abendland gelangte. (26) Der rotierende Zellulosebrei der Ursuppe, Papierschnipsel als Gedankenträger der Besucher und das Tagebuch geben einen Hinweis auf den Schreibstoff ‚Papier’ und seine Herstellung, wie er dann seit dem 13. und 14. Jahrhundert an Universitäten für das Studium der Texte in Gebrauch war. (27)


Die klösterliche Enge und geographische Abgeschiedenheit des Mittelalters, was in Corvey heute noch spürbar ist, stehen hier dem geöffneten und freien Zugang zu Mitwirkung und Teilhabe am Prozess des Kunstwerks gegenüber. Im übertragenen Sinne wird durch die Interventionen Elisabeth Brüggers die

‚Handschrift’ in ihre Bestandteile zerlegt und einer rezeptiven Mitarbeit unterworfen, die durch die

‚Schreiberin’, die Künstlerin, geleitet und geformt wird, die in verschiedenen Momenten interveniert, kommentiert und gestaltet. In diesem Sinne wirkt der in die Öffnungen der Klosterfenster hinein gehängte, überdimensionierte ‚Lebensbaum’ wie ein am Anfang einer Seite stehender ‚Capitalis’, wie er in der Schrifthierarchie der karolingischen Buchmalerei Verwendung fand.


In diesem beiderseitigem Kommunikationsprozess zwischen Künstlerin, Werk und Publikum steht die kreisende Bewegung der Ursuppe in Beziehung zu den immer neu vorbeiziehenden Besuchern in der

Klosterküche und bringt somit in Erinnerung, dass jeder Mensch nicht nur ein Teil der Schöpfung ist, sondern teilhat an ihr, in dem er fortwährend, durch den Kreislauf seines eigenen Lebens, daran mitwirkt. Hier aber sind zwei unterschiedliche Ebenen der Mitwirkung und ‚Verstrickung’ angesprochen, die einerseits das äußere Erscheinungsbild der Installation als Skulptur und andererseits ihre Funktionen und inneren Vorgänge betrifft. Ist die Künstlerin damit beschäftigt, der Skulptur (Installation) ständig neue Formen und Elemente hinzuzufügen (Intervention), wird das Publikum in die Mitwirkung verwickelt und interveniert selbst, durch das Gespräch mit der Künstlerin oder mit anderen Besuchern, durch die Betrachtung der immer wieder sich verändernden Installation (Skulptur), durch das Lesen der an der Wand hängenden Seiten des Tagebuchs, durch das Aufschreiben von Gedanken auf Papierschnipsel und durch das Hineinwerfen derselben in den rotierenden Brei.


In einem Werkstattgespräch zu seiner 1977 auf der Kasseler documenta 6 gemachten Installation

‚Honigpumpe am Arbeitsplatz’ beschreibt Joseph Beuys einen vergleichbaren Zusammenhang folgendermaßen: „…Und diese Honigpumpe ist also nicht denkbar nur als Sache, nur als Maschine oder als Skulptur. Die Menschen gehören eigentlich dazu, und dann hat die Honigpumpe durchaus die Möglichkeit, gewisse Prinzipien des Menschen einfach mal in zeichenhafter Form – es ist ja schließlich ein Mechanismus, kann also nur im übertragenen Sinn stimmig sein – zum Beispiel Zirkulationsprozesse, abzubilden.“ (28)


Angesprochen ist die von Joseph Beuys getroffene Unterscheidung zwischen ‚Skulptur’ und ‚Plastik’, in deren Spannungsfeld sich die Bildhauerin Elisabeth Brügger mit ihrer Installation ‚Ursuppe’ und den

‚Interventionen zur Schöpfung’ bewegt. Beuys sagte dazu: „In meiner plastischen Theorie sind es zwei verschiedene Begriffsbezeichnungen: Skulptur und Plastik. Skulptur würde dem deutschen Wort für Bildhauerei entsprechen. Und Plastik würde dem organischen Bilden von innen entsprechen. Oder wenn man es vergleicht: ein Stück Stein, was ich finde und wo irgendwo durch die Natur ein Prozess daran geschehen ist… Nehmen wir mal an, man findet einen Stein, der aus einer Gletschermühle stammt, wo so’n Gletscher eine hohle Rinne reingemacht hat, das würde dem bildhauerischen Element entsprechen.

Dagegen, wenn ich einen Knochen finde, würde man sagen, der hat sich gebildet im Grunde aus Flüssigkeitsvorgängen, die erstarrt sind… und nach und nach wird das fest, aus einem flüssigen, allgemeinen Bewegungsprozess, aus einem evolutionären Grundprinzip, was Bewegung bedeutet.“ (29) Dieser von Joseph Beuys beschriebene Zirkulationsprozess, mit den retardierenden Elementen, durch die stellenweise Eindickung des Honigs und seiner von der Temperatur abhängigen Fliessgeschwindigkeit, findet sich in verwandter Weise auch in der Installation ‚Ursuppe’ wieder.


Wie die Entwurfszeichnung zu ‚Ursuppe’ zeigt, handelt es sich bei Elisabeth Brüggers Installation um einen großen, rostroten Eisentopf (100 cm hoch, 120 cm im Durchmesser), mit einem hochgesetzten Boden für ein elektrisch betriebenes Rührwerk, einen flachen Deckel mit geschmiedetem Griff, einen rotierenden, dickflüssigen Zellulosebrei im Topf, eine singende Amsel, ein ‚Plastisches Gedicht’ am Kamin über der Feuerstelle, einen Lebensbaum am Fenster, einen Stempel mit dem Bild des Auges des Dreieinigen Gottes und der handschriftlich wiedergegebenen Gravur fein! , ein Tagebuch auf einem Schreibpult, mit einzelnen Blättern an den Wänden der Klosterküche, Buntes Konfetti für das karnevaleske Treiben der Heiligen nach Besucherschluss, Papierschnipsel, und all das in der Küche eines ehemaligen Klosters: Das sind die Requisiten für das ‚Theater der Schöpfung’ Elisabeth Brüggers, ein Funktions- und Experimentierraum für die Interventionen der Künstlerin. (30)


In diesem ‚Theater’ erscheint das Dualitätsprinzip als Gestaltungsform, das durch die ‚Interventionen’ im eigentlichen Sinne bewirkt wird. Das ‚Dazwischengehen’ der Künstlerin trennt unterschiedliche Bereiche voneinander, sie schafft ‚Polaritäten’ und ‚Dialoge’. Es ist ein universelles Prinzip, dass jedem kreativen Prozess zugrunde liegt, ja im künstlerischen Konzept von ‚Ursuppe’ selbst vorhanden ist und als Schöpfungsprinzip in der Erschaffung der Welt wie sie im 1. Kapitel der Genesis erzählt wird paarweise auszumachen ist: Tag und Nacht, Himmel und Erde, Finsternis und Licht, Himmel und Meer, Sonne und Mond, Abend und Morgen, Tiere und Pflanzen, Fische und Vögel, Mann und Weib, Leben und Tod, Gut und Böse, Abel und Kain. Der von der Künstlerin am Fenster der Klosterküche angebrachte ‚Lebensbaum’ evoziert diesen Dualitätsraum des Paradieses, aus dem der Mensch vertrieben wurde. Für ‚Ursuppe’ ist das Dualitätsprinzip eine wichtige Voraussetzung für den kreativen Prozess, wobei in der Wechselwirkung der Pole, durch Rhythmus und Dialog, neue Kraftfelder entstehen, zwischen Vitus und Stephanus, Topf und Stein, flüssig und hart, Heilige und Karneval, Ruhe und Bewegung, linker und rechter Hand, Plastik und Skulptur, Installation und Intervention, Kunst und Technik, Kultur und Natur, Künstler und Publikum.


Der Bedeutungsschwere des Themas begegnet Elisabeth Brügger aber nicht mit Pathos und übertriebener Tiefe, sondern mit Distanz, Ironie des Sujets und teilweise auch mit Selbstironie. Der Stempel mit dem Bild des Auges des Dreieinigen Gottes und der Schriftgravur fein! , wird als eine Art ‚Lob von ganz Oben’ verstanden. (31) Darüber hinaus finden in dem ‚Tagebuch einer Ursuppe’, über den bereits erwähnten Dialog zwischen der linken und der rechten Hand hinaus, noch zwei weitere Dialoge statt. Den zwischen den zwei Prinzipalheiligen des ehemaligen Klosters Corvey ‚Stephanus’ und Vitus’ und eine Form des Selbstgesprächs der Künstlerin, in Reflektion auf die abwesenden Künstler Jonathan Meese und Michael Buthe, wobei von Michael Buthe zeitgleich zur ‚Ursuppe’ im Museum Höxter-Corvey eine Ausstellung zu sehen war. (32) Der hier entstehende Diskurs der auf mehreren Ebenen sich überlagernden Dialoge, die parallel zur Installation stattfinden und für die das ‚Tagebuch einer Ursuppe’ die Schrift- und Gedankenplattform darstellt, wird durch die Künstlerindividualität durchkreuzt, auf der Suche nach einer eigenen Sprache und Realität. Das ‚Lob von ganz Oben’ wird aber nur dann, und nur von der Künstlerin vergeben und auf die Seite des Tagebuchs gestempelt, wenn einerseits die linke und die rechte Hand ihre Schreibübungen gut vollzogen haben und andererseits wenn die unterschiedlichen Dialoge im ‚Tagebuch einer Ursuppe’ für die Künstlerin zufriedenstellend verlaufen sind. So fungiert das Tagebuch wie der Kommentar zur ‚Ursuppe’, diesem ‚plastischen’ Mitwirken an der Schöpfung, wobei die Künstlerin selbst eine Stellvertreterfunktion des ‚Schöpfers’ einnimmt, indem im Idealfall nur ihre eigenen Handlungen Aussicht auf Belobigung haben. So stilisiert sie sich selbst zu einem ‚deus artifex’ (33), zu einem zweiten Gott, der mit dem Adjektiv fein!  ironisch das im 1. Kapitel der Genesis geschriebene „Und Gott sah, dass es gut war! paraphrasiert. (34)


Der architektonische und landschaftliche Kontext in dem die Installation und die über mehrere Monate verteilten Interventionen stattgefunden haben gehört mit in die Sphäre dieser wichtigen, letzten Arbeit von Elisabeth Brügger dazu. In der Gründungsmitteilung von 826 über das Kloster Corvey in der von Radbert 826 verfassten Vita des Corveyer Abtes Adalhard wird das als ‚Corbeia Nova’ bezeichnete Corvey als ein ‚kleines Ägypten’, als ein ’zweites Paradies’ beschrieben, das am Weserbogen in einer fruchtbaren Wiesenlandschaft liegt, umgeben von zwei Bergzügen, wie es durch das fruchtbare Niltal in Ägypten vorgeprägt ist. (35) Darüber hinaus sind in den Dialogen wie sie im Tagebuch aufgeschrieben sind, die zwei Schutzheiligen von Corvey ‚Stephanus’ und ‚Vitus’ in ein Zwiegespräch über die ungewöhnlichen Vorgänge in der Klosterküche geraten. In einer elektronischen Nachricht an den Autor beschreibt Elisabeth Brügger dies folgendermaßen:

„Mit diesen Texten am Topfrand ist wohl so etwas wie eine Parabel entstanden, was Vitus und Stephanus, aber auch was linke und rechte Hand angehen. … Den Begriff Parabel habe ich gerade noch einmal nachgesehen. Er wird gleichgesetzt mit ‚Nebeneinanderwerfen’, was ja ganz wunderbar ist: Ein

‚Nebeneinanderwerfen’ scheinbar voneinander unabhängiger Inhalte. Ob diese sich sinngebend untereinander und mit irgendeiner Wirklichkeit abgleichen lassen, war für mich erst mal zweitrangig, aber sie wurden geworfen und kamen beieinander zu liegen und verhalten sich jetzt zueinander (wie die Knöchelchen eines Wahrsagers). Zumindest kann man einen Teil des Tagebuches als eine Gleichung auf das Kunst- und Kulturschaffen, hier etwas hölzern Vitus u. Stephanus, und seine stets

unsicheren Aussichten auf Erfolge lesen, oder? Es ist also eine Parabel, eine Aneinanderreihung von Ereignissen, niedergeschrieben, im Wechsel von linker und rechter Hand.“ (36)


Mag dies als eine Erklärung für das künstlerische Vorgehen angesehen werden, in dem die Installation aus einem ‚Nebeneinanderwerfen’ unterschiedlichster Form- und Bildstrukturen entsteht. So steht in diesem Zusammenhang auch das von der Künstlerin als ‚Plastisches Gedicht’ bezeichnete Wandrelief, das in Schreibschrift anmutender Form über dem Kamin der Feuerstelle angebracht wurde. Aus ‚Zellulosemasse’ modelliert, getrocknet und aufgehängt, lautet es:


Ein halber Psalm

das bin ich

und suche artig meinen

Gedankenreim (37)


Die Dichtkunst galt in der Antike als die nobelste der Künste, da sie bereits bei Platon (Phaidros) der Malerei und der Bildhauerei vorzuziehen sei, weil sie göttlicher Eingebung folgt. Elisabeth Brügger aber verbindet das Gedicht mit der bildnerischen Erscheinungsform, die aus dem Transformationsprozess der Installation entstanden ist. Hierbei ist der Sinn untergeordnet, es ist wie die Sichtbarmachung von Polaritäten, der Versuch die Dualitäten wie sie aus der Installation ‚Ursuppe’ hervorgegangen sind, wieder zu einer Einheit zu führen, ihrem Ursprung zurückzugeben. (38) So drückt das Gedicht eine Selbstreflexivität aus, in der sich die Künstlerin mit ihm selbst in Deckung bringt, auf der Suche nach Sinn- und Gedankenausdruck. (39)


Folgen wir auch hier dem religionsphilosophischen Ansatz vom Beginn unserer Überlegungen, so begegnet uns jetzt nicht mehr diese Gewissheit aus dem von der Künstlerin zitierten Prolog des Johannes Evangeliums, sondern eher ein latenter Skeptizismus an der Definition und der Existenz des Schöpfergottes, wie ihn Fichte der Nötigung durch die Metaphysik und die Religionslehre des Juden- und Heidentums, „die absolute Einheit und Unveränderlichkeit des göttlichen Wesens in sich selber anzuerkennen“, entgegensetzt. Die Abwendung von der Vernunft verwandelt „das Denken in ein träumendes Phantasieren – denn eine Schöpfung lässt sich gar nicht ordentlich denken – das was man wirklich denken heißt – und es hat noch nie ein Mensch sie also gedacht“. (40) So sucht die Künstlerin ‚artig ihren Gedankenreim’ in Form von ‚Psalmen’, kleinen poetischen Gedichten wie sie in der christlichen Gebetssprache aus dem Judentum übernommen worden waren.


Durch die ‚Interventionen zur Schöpfung – Ursuppe’ thematisiert Elisabeth Brügger aber auch das

‚multipolare’ Schaffen des Künstlers und stellt ein ‚Szenarium der Genesis’ her, in dem die Requisiten in eine thematische Übereinstimmung treten und den ‚Genius loci’ mit einbeziehen. Als Grundlage und Ausgangspunkt dient ihr die Zellulose des Ursuppenbreis, die als Hauptbestandteil von pflanzlichen Zellwänden mit einem Massenanteil von fünfzig Prozent die häufigste organische Verbindung der Erde ist. Dieser Brei ist wie ein Aggregat, das seine ‚Energie’ in unterschiedlichste Richtungen abgibt und das durch die mit Gedanken beschriebenen Papierzettel immer wieder neue Energie zugeführt bekommt. Doch wenn die Künstlerin ‚dazwischengeht’ entsteht ein kreatives Pontenzial, das nur sie im Stande ist zur Entfaltung zu bringen.


Die sich ständig in Bewegung befindende ‚Ursuppe’ zeigt, dass das Mitwirken an der Schöpfung zu jedem Augenblick möglich ist. Mit ihrem kompakten religionsphilosophischen Diskurs von ‚Installation’ und ‚Interventionen’, Skulptur und Plastik, Malerei, Bildhauerei und Dichtung stellt sie die Frage nach der ‚Erschaffung der Welt’. Die Künstlerin spürt der Resonanz nach, die aus der Ursuppe an sie weitergegeben wird und sie öffnet ihr Ohr dem Nachhall des Urknalls, um die auseinander geschiedenen Dualismen wieder zu einer Einheit zurückzuführen. Ob sie und wie sie es erreichen wird, bleibt ihr Geheimnis, nur „Gott sah, dass es gut war“:

fein! 


Stephan N. Barthelmess Berlin, 6. September 2009, Anmerkungen:


  1. Paul Cézanne, op. cit.: Walter Hess (Hg.), Paul Cézanne, Über die Kunst (Gespräche mit Gasquet, Briefe), Mäander Kunstverlag, Mittenwald 1980, S. 12f
  2. Johann Gottlieb Fichte: Die Anweisungen zum seligen Leben 1806, op. cit.: Peter Sloterdijk/Thomas H. Macho (Hg.), Weltrevolution der Seele, Bd. 2, S. 525-528
  3. Cit. Elisabeth Brügger, Beschreibung des Projekts s. Programm Corvey 2008, S. 41: http://www.schloss-corvey.de/cms/37-0- Programmrueckblick.html
  4. S. Anm. 2
  5. Ibid.
  6. Performance, Installation, Happening und Aktion gehören seit Mitte der 50er Jahre zu den wichtigsten Ausdrucksformen zeitgenössischer Kunst und sind seitdem fester Bestandteil des Repertoires der Bildenden Kunst. Vgl. Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, es 2318, Frankfurt am Main 2003
  7. Vgl. Ausstellungskatalog: 1960, Les Nouveaux Réalistes, Musée d´Art Moderne de la Ville de Paris, 15.5.-7.9.1986
  8. Friedrich, Kluge, Ethymologisches Lexikon der deutschen Sprache, 23. erw. Auflage, Walter de Gruyter, 1995, S. 740
  9. Elisabeth Brügger ‚Tagebuch einer Ursuppe’ v. 2.4.2008 bis 1.9.2008, in einer Emailnachricht vom 20.8.09, 15:00:44 Uhr, schreibt Sie dazu: „Zunächst kam mir ja irgendwas elegisches in den Kopf, dass ich dann erst auf ein Diktiergerät sprach, die Zahlen auf den ersten Blättern waren Hinweise auf die Bandabschnitte. Das sollte dann erst zweigleisig laufen, war dann aber nicht mehr in Deckung zu bringen. Die Doppelläufigkeit der Erzählstränge stellte sich ein, damit war das Medium entschieden und das Gebilde komplex genug.“
  10. Ibid.
  11. Op. cit. Welt der Physik, Kosmos.http://www.weltderphysik.de/de/1092.php, Projektträger DESY, 22603 Hamburg, Anbieter im Sinne des Telemediengesetzes: Deutsche Physikalische Gesellschaft e.V., Hauptstraße 5, D-53604 Bad Honnef: „Nach heutiger Vorstellung ist das Universum vor etwa 15 Milliarden Jahren im Urknall entstanden und dehnt sich seitdem aus. Am Anfang war der Kosmos ein einziger heißer Brei und noch undurchsichtig. Erst nach 400.000 Jahren war das Weltall so weit abgekühlt, dass es kaum noch geladene Teilchen im All gab, die Lichtteilchen ablenken konnten. Aus dieser Zeit erreicht uns mit der 3-Kelvin- Hinter- grundstrahlung die älteste Strahlung im All - für die Kosmologinnen und Kosmologen enthält diese Strahlung einzigartige Informationen über die Verteilung von Strahlung und Materie im gerade einmal 400.000 Jahre jungen Kosmos.“
  12. Elisabeth Brügger, Tagebuch einer Ursuppe, S. 2, Z. 2, s. Anm. 9
  13. Paul Cézanne, s. Anm. 1
  14. Volker Hralan/Rainer Rappmann/Peter Schata: Soziale Plastik (Materialien zu Joseph Beuys), 3. erw. u. erg. Aufl., Achberg 1984
  15. Elisabeth Brügger, Tagebuch einer Ursuppe, S. 1, Z. 16, S. 2, Zeile 2 & 3
  16. Elisabeth Brügger, cit. n. Emailbrief an den Autor v. 20.8.2009, 15:00:44
  17. Neben den inoffiziellen, ad hoc Interventionen gab es 2008 eine Reihe feststehender Termine, so am 18.5., 15.5., 20.7., 17.8.,

21.9. und 19.10.

  1. E. H. Gombrich, Die Geschichte der Kunst, 16. Auflage, S. Fischer, Frankfurt am Main 1996, S. 32
  2. Iibid.

In einer Zeit, in der Mechanismen des Kunstmarktes zunehmend auch die künstlerische Arbeit bestimmen, ja selbst Ausstellungen mit dem skandalösen Hinweis enden, dass weitere Entwicklungen der Kunst der Gegenwart aus dem Kunstmarkt selbst, mit seinen vielen Galerien und Kunstmessen, zu entnehmen seien, wie in der zwischen dem 1. Mai und 29. Juni 2009

gezeigten Ausstellung im Berliner Martin Gropius Bau ‚60 Jahre. 60 Werke, Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland, von 1949 – 2009 ’, bietet die Lektüre der Einleitung von E. H. Gombrichs 1950 erschienener ‚Story of Art’ eine geradezu beglückende Klarstellung. Dort lautet es, gleich zu Beginn der Einleitung: “There really is no such thing as Art. There are only artists.“ Dieser Hinweis auf die Tätigkeit künstlerischer Arbeit, die sich in der Präsenz des Künstlers vor und mit seinem Werk manifestiert, ist vielleicht eine der folgenreichsten Aussagen für die Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Die ganze Palette von Kunstformen, in denen Performance, Aktion und Installation des Künstlers das ‚Kunstwerk’ ausmachen und er selbst zum Abbildungsgegenstand wird, findet in dieser Aussage eine entscheidende Vorprägung. Ein solches Kunstwerk unterliegt einem ständigen Wandel, es ist einem fortlaufenden Entstehungsprozess unterworfen, der manchmal sogar über mehrere Tage, Wochen oder Monate andauert.

  1. Vgl. James Putman, Art & Artifact, The Museum as Medium, London 2001; Stephan Barthelmess, Das postmoderne Museum als Erscheinungsform von Architektur, Die Bauaufgabe des Museums im Spannungsfeld von Moderne und Postmoderne, Schriften aus dem Institut für Kunstgeschichte der Universität München, Bd. 26, München 1986
  2. Vgl. Papierzettel von Besuchern in ‚Tagebuch einer Ursuppe’, so z. B. am 9.5.2008: Viele Sachen sind alt und trotzdem schön,

am 19.5.2008: Leben auf Erden ist schön!, am 4.6.2008: Vertrauen, am 23.7.2008: Dialog, am 26.7.2008: Intensität, am 29.7. 2008: Die Erleuchtung finden, am 1.9.2008: Freiheit nicht durch Glauben 2

  1. Vgl. Vera Trost, Skriptorium (Die Buchherstellung im Mittelalter), Stuttgart 1991, S. 6 & Umschlagtext cit.: „O glücklichster Leser, wasche Deine Hände und fasse so das Buch an, drehe die Blätter sanft, halte die Finger weit ab von den Buchstaben. Der, der nicht weiß zu schreiben, glaubt nicht, dass dies eine Arbeit sei. O wie schwer ist das Schreiben: es trübt die Augen, quetscht die Nieren und bringt zugleich allen Gliedern Qual. Drei Finger schreiben, der ganze Körper leidet…“ (Notiz eines Schreibers im 8. Jhd.), s. a. Ralf M. W. Stammberger, Scriptor und Scriptorium (Das Buch im Spiegel mittelalterlicher Handschriften), Graz 2003
  2. ‚Corvey steigt rasch nach seiner Gründung (822), begünstigt durch das hohe Bildungsniveau des Mutterklosters Corbie an der Somme, durch die Nähe zum Königtum und zum Karolingerhaus sowie durch seine Verkehrslage zur führenden Bildungsstätte im Sachsenlande auf: als Träger karolingischer Kultur westfränkischer herkunft und als deren Vermittler für das sachsenland.’ (cit. n.

‚Kunst und Kultur im Weserraum, 800-1600, Ausstellungskatalog, Münster 1966, S. 144) Das Skriptorium von Corvey hatte durch seine Nähe zum Mutterkloster Corbie besonders gute Kontakte nach Nordfrankreich, zur Heimat der franko-sächsischen Buchmalerei, und versuchte, die Vorlagen, die es von dort erhalten hatte, durch strengere Ordnung, durch mehr Verwendung von Gold und durch weitgehende Durchmusterung der Hintergründe zu überbieten. Die ottonische Buchkunst Corveys lässt sich kaum über die Jahrtausendwende hinaus verfolgen, jedoch vermochte das unter dem hl. Bernward, 993–1022 Bischof von Hildesheim, aufblühende Skriptorium des Hildesheimer Doms an die Corveyer Buchmalerei anzuknüpfen.’ Cit. n. http://kunst.gymszbad.de/ portraet/buchmalerei/otto-01.htm

  1. S. Anm. 22, Stuttgart 1991, Abb. S. 6
  2. So wurde zum Beispiel durch Gisla (757-810), Tochter Pippins des Jüngeren und Schwester Karls des Großen, im 8. Jhd. eine blühende Schreiberwerkstatt in dem sich im Osten von Paris befindenden Frauenkloster Notre-Dame-des-Chelles geleitet, die zahlreiche Auftragsarbeiten hervorbrachten.
  3. Vgl. Anm. 22, Stuttgart 1991, S. 10
  4. Ibid.


  1. Joseph Beuys, op. cit.: Volker Harlan, Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Joseph Beuys, Stuttgart 1986, S. 53ff, abgedruckt

in: Joseph Beuys: Honigpumpe am Arbeitsplatz, in: Die Gleichzeitigkeit des Anderen, Materialien zur Ausstellung, Kunstmuseum Bern 1987, S. 35 f

  1. Götz Adriani/ Winfried Konnerrtz/Karin Thomas: Joseph Beuys (Leben und Werk), 3. Auflage, Köln 1986, S. 340
  2. Elisabeth Brügger: Angaben im Konzeptschema zum Projekt von 2007
  3. Elisabeth Brügger: Vorzeichnung zu ‚Lob von ganz oben’, Das Auge des Dreieinigen Gottes, 2008
  4. So ist die Arbeit von Elisabeth Brügger auch im Kontext des Corveyer Gesamtprogramms für 2008 zu sehen, welches nicht nur den Ort mit einbezieht, sondern musikalisch und literarisch den Bogen spannt und letztendlich die Sphäre von Kunst und Religion berührt. Auch das Konzert am 10.5.2008 der 54. Corveyer Musikwochen 2008 (4.5.-29.6.), das zum Thema des 'Himmlischen Jerusalem' konzipiert wurde, steht in diesem Kontext. Die ‚Himmlische Stadt, die am Ende der Zeiten erlösend zu den Menschen herabschwebt wird durch Olivier Messiaens 'Quartett für das Ende der Zeit' und Bachs 'Kunst der Fuge', aufgeführt im karolingischen Johanneschor von Corvey, zeigt die besondere Verbindung zu Elisabeth Brüggers Arbeit. Im besonderen Masse sollte aber die Aufführung der Komposition 'Pintura del Mundo' des Komponisten Walter Steffens am 7.6. die künstlerische und inhaltliche Fokussierung zeigen. Der geschlossene Altar des um 1500 entstandenen Triptychons ‚Garten der Lüste’ zeigt die ‚Erschaffung der Welt’ von Hieronymus Bosch (~1450-1516) (Museo del Prado, Madrid), die 'Ursuppe', die in Boschs Bild immer wieder Ausgangspunkt ist und an unsere Verantwortung vor der geschaffenen Welt mahnt. Steffens Komposition nimmt darauf unmittelbar Bezug. Künstlerische Sprache ist die Gestalt für das Neue und Unsichtbare der Schöpfung. Auch die Ausstellung Michael Buthe (1944-1994): Den Sternen näher als der Erde im Museum Höxter-Corvey (15.3.- 29.6.) reiht sicht nahtlos in dieses Konzept ein. Ihr Titel gibt einen Hinweis auf die kreative und geistige Kraft des Künstlers, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Die Reihe 'Dialogus Mundi: Sprechen, Hören, Staunen, Sprache und globales Denken: Der Turmbau zu Babel', sollte den entsprechenden theologischen und religionsphilosophischen Horizont aufzeigen. Schöpfungsge- schichte ist nicht das Märchen der Bibel, an dem sich die christlichen Konfessionen mit geradezu kindlicher Naivität klammern, so dass sie sich anmaßen sogar den Zeitpunkt der Erschaffung der Welt in der Christmesse zu verkünden. Schöpfung erscheint als die Gegenwart unseres Daseins, in dem wir zum Mitwirken aufgerufen sind, deswegen 'Ursuppe'. Das Projekt ‚Dialogus Mundi' erfordert die Mitwirkung durch das Gespräch und stellt den hebräischen Urtext der Genesis in den Mittelpunkt. Die

‚Ordnung des Diskurses' (Michel Foucaults) ist die Voraussetzung, die babylonische Verwirrungsstrategie in Verständigung zu verwandeln. Erneuerung entsteht nur durch das Gespräch, das Zuhören und der Achtung vor dem Gegenüber (Sprechen, Hören, Staunen). Kunst, Musik und Literatur sind dafür grandiose Erscheinungsformen und Vermittlungsinstrumente zugleich. Das wäre die 'renovatio corbeiense', Corvey als ein zukünftiger Ort des lebendigen, künstlerischen, theologischen und intellektuellen Gesprächs über uns und die Erscheinungen der Welt. Vgl. Anm. 3

  1. Vgl. Ernst Kris/Otto Kurz: Die Legende vom Künstler (Ein geschichtlicher Versuch), es 1034, Frankfurt am Main 1980, S. 64-86
  2. S. Genesis, Kapitel 1 (1,1-11,9)
  3. Das 65. und 66. Kapitel der Adalhard-Biografie ‚Ex vita Adalhardi abbatis Corbeiensis’ des Leiters der Corveyer Klosterschule Paschasius Radbertus von 826 enthält einen illustrativen Bericht über die Gründungsgeschichte des Klosters Corvey, wo es lautet: „Es handelt sich um ein wasserreiches Gelände, wie wenn es ein kleineres Ägypten wäre und ein zweites Paradies des Herrn für jene, die von der Quelle der Pater zum Anfang der Sonne hingehen.“
  4. Elisabeth Brügger, Emailnachricht vom 20.7.2008
  5. Elisabeth Brügger, Gedicht im Tagebuch einer Ursuppe v. 30.4.2008, S. 2

Zur Bezeichnung ‚Plastisches Gedicht’ schreibt Elisabeth Brügger’ in einem Emailbrief v. 20.8.2008, 15:00:44 Uhr, folgendes:

„Dieser Elfer stammt ja aus den Anfängen des Tagebuchs, hat schöne Bilder und das artige ich ist natürlich jenes, welches die Autorität von etwas Höherem, z. B. der Kunst, anerkennt und versucht, sich selbst (als Freud- und oder Klagelied) zu vervollständigen, in Resonanz zu kommen, sich einen Reim zu machen auf das Eigene. J.M. ist auch ein artiger Künstler. Das war aber nicht die Frage. Vielleicht ist es so, dass ich als ursprüngliche Plastikerin plastisch formen wollte, mit Papiermasse. Das könnte heißen, die Worte sollten noch mehr hervortreten, …“

  1. Zum Thema des Wettstreits der Künste, dem ‚Paragone’, vgl. Kris/Kurz‚ hier Anm. 33. Ursuppe’ rührt an den alten Wettstreit der Künste, den Paragone, nachdem die Dichtung göttlicher Eingebung folgt und Malerei und Skulptur nichts sind, weil sie die Wirklichkeit abbilden durch ‚Können’ und nicht durch die dem Dichter vorbehaltene ‚Gottesnähe’.
  2. Vgl. Joseph Beuys: In seiner in den Münchner Kammerspielen 1985 gehaltenen Rede beschreibt Joseph Beuys die Ausweitung des künstlerischen Schaffens bis in die Gesellschaft hinein: „…: das Kunstwerk ist das allergrößte Rätsel, aber der Mensch ist die Lösung. Hier ist die Schwelle, die ich kennzeichnen will als das Ende der Moderne, das Ende aller Traditionen, wir werden gemeinsam den sozialen Kunstbegriff entwickeln als ein neugeborenes Kind aus den alten Disziplinen. Wir sehen die traditionellen Disziplinen als Architektur, Bildhauerei, Malerei, Musik, Dichtkunst, den Kreis der Musen, die auch hier auftreten hinter diesem eisernen Vorhang, dass aus diesem Kreis ein Kind geboren wird, die Soziale Kunst, die Soziale Plastik, das sich zur Aufgabe stellt, nicht nur physisches Material zu ergreifen. Aber auch für den Bau, für die Skulptur in Bronze oder Stein, für die Vorführung auf dem Theater, bei unserem Sprechen bedürfen wir des geistigen Bodens der Sozialen Kunst, auf dem jeder Mensch sich als schöpferisches, die Welt bestimmendes Wesen erlebt und erkennt. Die Formel, ‚jeder Mensch ist ein Künstler’, die sehr viel Aufregung erzeugt hat und die immer noch missverstanden wird, bezieht sich auf die Umgestaltung des Sozial- Leibes, an dem nicht nur jeder Mensch teilnehmen kann, sondern sogar teilnehmen muss, damit wir möglichst schnell die Transformation vollziehen.“
  3. Johann Gottlieb Fichte, op. cit. s. Anm. 2


Stephan N. Barthelmess (* 1958) studierte Violoncello in Augsburg, Athen und an der Franz-Liszt-Akademie Budapest in der Meisterklasse von Prof. Csaba Onczay. Ab 1982 studierte er in München und Paris Kunstgeschichte, Archäologie und Philosophie und promovierte mit einer Arbeit über den New Yorker Architekten Richard Meier. Barthelmess erhielt zahlreiche internationale Stipendien, so u. a. von der Europäischen Union, dem DAAD, der Französischen Regierung und der J. Paul Getty Stiftung in Los Angeles. Kulturmanagement und Kulturmarketing führten ihn zum Festival Pablo Casals in Prades, zum J. Rile Artists Management in Philadelphia und an das Institut für Marketing in St. Gallen. Von 1990 bis 1995 war er Geschäftsführer von International Creative Management (ICM). Von Mai 1995 bis 2001 war er bei der Frankfurter Buchmesse Stellvertretender Abteilungsleiter der Internationalen Abteilung und verantwortlich für die Buchmärkte Europa, Türkei, den Arabischen Raum und Iran. Zwischen 2002 und März 2009 war Barthelmess Geschäftsführer des Kulturkreises Höxter-Corvey, Museumsleiter des Museums Höxter-Corvey und Künstlerischer Leiter der Corveyer Musikwochen, wo er erfolgreich seine kuratorische und publizistische Tätigkeit mit einem viel beachteten, ambitionierten Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm weiter ausbaute. Die Antragstellung zur Aufnahme Corveys in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO initiierte er 2005 und legte die Grundlagen für eine Weiterentwicklung der ‚Klosterregion Paderborn- Höxter’ als EU-anerkannte Kulturförderregion. Seit Juli 2009 ist Barthelmess Leiter der Development Unit der Stiftung Preussischer Kulturbesitz in Berlin.

Daniel Neugebauer

Von geistiger Nahrung und demokratischer Schöpfung

Elisabeth Brüggers Ursuppe


Elisabeth Brügger versetzt in den Räumlichkeiten des Klosters Corvey unter dem Titel

„Interventionen zur Schöpfung“ einen riesigen, mit Wasser gefüllten Suppentopf in Rotation und lädt zufällige und gezielte Besucher dazu ein, mit Kommentaren versehene Papierstücken hineinzuwerfen. Was entsteht, ist die „Ursuppe“. Begleitet wird diese Installation von verschiedenen weiteren Objekten und Aktionen, zum Beispiel dem von der Künstlerin verfassten „Tagebuch einer Ursuppe“, doch der Kessel und die Aktionen, die er generiert, sind zentral.


In die Sprache der Kunst übersetzt kann man das Geschehen so fassen: Der Kessel bildet die skulpturale Grundlage der Arbeit. Kloster Corvey als Ort des Geschehens ist der geistig-philosophische Bezugsrahmen und die zur Interaktion eingeladenen Besucher bringen die eigentlichen Inhalte in die Arbeit, während die Künstlerin  lediglich die Infrastruktur bereitstellt - dazu gehören auch Papier und Stifte, die hier zum künstlerischen Werkzeug werden. Ohne diese Werkzeuge würden die Inhalte, die Gedanken und Reaktionen, die die Besucherinnen und Besucher mitbringen, in ihnen bleiben. Diese aus ihnen herauszukitzeln, ist das Hauptanliegen der Arbeit.


I. Skulptur und Schöpfung. Die Grundlage der Arbeit


Der geistige Horizont der Arbeit wird mit Blick auf ihr Material klarer: Elisabeth Brügger hat den Kessel, den sie für die „Ursuppe“ benutzt, nicht selbst als künstlerisches Objekt hergestellt, sondern anfertigen lassen.1 Der Begriff der Anti-Kunst ist hier wichtig, denn die Künstlerin betont stets, dass sie sich weniger für handwerkliche Perfektion interessiert, nicht für das fertige Objekt also, sondern für den Prozess. Dieser Prozess ist auch ein geistiger. Wir merken durch die Wahl eines Readymades2 als Ausgangspunkt der Arbeit, dass es der Künstlerin um ein geistiges Feld geht, das sie beackern will. Es geht um die Welt der Bezüge, letztlich um die Frage “Was ist Kunst?” und “Wann wird etwas zu Kunst?”. Auch wenn Titel und Bezugsrahmen der “Ursuppe” an die Schöpfung denken lassen, so muss man sich doch verdeutlichen, dass Elisabeth Brügger nach dem Schöpferischen in allem und jedem fragt, anstatt sich selbst als schöpferisch Tätige über ihr Publikum zu erheben.3


II. Raum und Religion. Der Bezugsrahmen der Ursuppe


Ebensowenig kann man die Arbeit außerhalb ihres Entstehungsortes bewerten. Sie ist insofern ortsspezifisch, als gerade das Kloster Corvey als historisch aufgeladener Ort dem Werk eine sehr prägnante Stimmung verleiht. Betritt man das Kloster, begegnet man einer jahrhundertealten christlichen Tradition. Alles, was sich im Kloster befindet, muss sich in Bezug setzen zur religiösen und theologischen Tradition des Hauses.


Stephan Barthelmess hat sich intensiv mit den religionswissenschaftlichen Aspekten dieser Arbeit beschäftigt. Zentral ist für mich, dass die “Ursuppe” eine Position zum Thema “Glauben” einnehmen muss, um zu funktionieren. Das gelingt Elisabeth Brügger auf interessante Art und Weise, denn durch den Namen der Aktion knüpft sie an die biblische Schöpfungsgeschichte an. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“, steht im Johannesevangelium. Brügger konzentriert sich also auf den für sie wesentlichen Punkt: Das Wort. Es geht ihr im weitesten Sinne um eine Untersuchung von Sprache. Die Suppe, die entsteht, wird ja tatsächlich aus den Kommentaren der Besucher zusammengesetzt. Das Wort ist damit allerdings nicht länger nur bei Gott, sondern bei den Menschen. Die „unkünstlerische Grundform“ und die inhaltliche Ebene nehmen zusammen eine kritische Position gegenüber dem Gedanken eines “großen Schöpfers” ein. Elisabeth Brüggers Schöpfung ist


III. Das Salz in der Suppe. Die Inhalte der Arbeit


Und diese „Wortträger“ besuchen das Kloster zum Teil, um die Arbeit von Elisabeth Brügger zu sehen, viele wissen jedoch nichts von der Arbeit und entdecken sie erst zufällig auf ihrem Rundgang durch das ehemalige Kloster. Die vergeistigte Atmosphäre beeinflusst mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Stimmungslage. Die Kommentare auf den Zetteln in der Ursuppe belegen dies.4 Denn zumeist finden sich auf ihnen keine Banalitäten, sondern Worte und Sätze, die darauf hindeuten, dass man sich mit philosophischen Themen auseinander gesetzt hat, es geht um Hoffnung und um   Heimat, um Schönheit und Erleuchtung. Offenbar sind dies Themen, die die Menschen bewegen. Oder es ist das, was sie von oder an einem Ort wie diesem erwarten. Es wäre interessant zu erfahren, ob die Person, die ein kleines Kruzifix zeichnete und in den Kessel warf, dies auch getan hätte, wenn dieser an einem profaneren Ort gestanden hätte. Ich vermute, dass genau dieser situative Rahmen die Menschen dazu bringt, in bestimmten Bahnen zu denken - und letztlich zu schreiben. Genau das macht Elisabeth Brügger erfahrbar: Die Macht des Ortes, der religiösen Konditionierung und die Macht des Wortes.


Das Wort, etwas, das zum Zwecke der Kommunikation aus gedanklicher Energie geformt wird, definiert unser Weltverständnis. Darin eingeschrieben ist bereits die  Potenz des Miteinanders, des Verstehens, des Missverstehens, des Verhandelns – eine perfekte Analogie also zum kreativen Prozess. Darüber hinaus hat dieser Ansatz etwas sehr Demokratisches: Den meisten Menschen ist die Fähigkeit zum Umgang mit dem Wort gegeben, darum trägt jeder die Möglichkeit in sich, Welten zu schaffen oder mitzugestalten. Dies alles bündelt sich in der Anschauung der „Ursuppe“ von Elisabeth Brügger, ganz besonders in dem Moment, in dem ihr fremde Menschen auf ihr Werk zugehen und es durch eigen Wortanreicherungen verändern. Das Werk wächst also mit seiner Rezeption. Aus den unterschiedlichen Nuancen setzt sich letztlich der„Geschmack“ dieser Suppe zusammen. Würde niemand mitmachen und die Ursuppe aus bloßem Wasser bestehen bleiben, so wäre das ein trostloses Bild. Bei der Aktion mitzumachen, die Suppe mitzugestalten, beinhaltet somit auch immer den Glauben daran, die Dinge verbessern zu können. Denn wenn jemand absolut keinen Glauben an Verbesserung oder Veränderung hat, dann dürfte diese Person auch keinerlei  Motivation verspüren, überhaupt bei dieser Arbeit mitzuwirken. Dabei muss Glaube hier keinesfalls eine religiöse oder christliche Komponente haben. Es kann auch ein privater Glaube oder eine private Hoffnung sein, was die Menschen dazu bewegt, mitzumachen. Aber sehr viele machen eben mit - und so zeigt sich deutlich, dass eine spirituelle Komponente in einer Vielzahl von Menschen angelegt ist. Es geht der Künstlerin nicht darum, das zu bewerten, sondern lediglich darum, uns dies vor Augen zu führen. Hier zeigt sich deutlich der Optimismus dieser Arbeit. Man kann eine Analogie zu den „Wish Trees“ von Yoko Ono sehen, jenen Wunschbäumen, die Ono an verschiedenen Orten platziert hat, damit Menschen ihre Wünsche aufschreiben und an den Baum hängen.5 Ein scheinbar kindlicher Akt wird dadurch politisch, dass er den Traum aus dem Inneren ins Außen holt, aus dem Gehirn auf einen Zettel. Ono versucht, das kreative Potential in allen Menschen zu aktivieren. Womit wir wieder bei Frau Brügger wären, der mit der

„Ursuppe“ etwas ganz Ähnliches gelingt. Die schöpferische Kraft verortet sie in jedem einzelnen Teilnehmer ihrer Aktion.


Bei Elisabeth Brüggers Ursuppe geht es also nicht um das Kulinarische, wohl aber um Nahrung. Geistige Nahrung. Spiritualität im weitesten Sinne ist der Kern der Arbeit, die Suppenbasis sozusagen. Sie befragt große spirituelle Konzepte. Man soll sich diese “Ursuppe” jedoch nicht physisch einverleiben, sondern sich mit ihr verbinden, indem man selbst etwas hinzufügt, indem man handelt. Geben und Nehmen, Denken und Kommunizieren, Visionen haben und Handeln - das sind die wichtigsten Elemente in diesem Werk von Elisabeth Brügger.


IV. Kontrollieren und Kommunizieren. Die Aufgaben der Künstlerin


Bleibt noch die Frage nach der Künstlerin selbst. Sie sieht sich nach eigener Aussage primär in der Verantwortung, eine Struktur zu schaffen, die den Besuchern die Möglichkeit gibt, mit ihrer eigenen spirituellen Dimension in irgendeiner Form umzugehen. Zusätzlich unterzieht sie sich aber noch einem Selbsttest. Sie tut das in Form eines Tagebuchs, welches komplett subjektiv ist, aber dennoch eine Art innerpsychischer „Kontrollinstanz“ beinhaltet. Elisabeth Brüggers linke und rechte Hand schreiben einander und sind dabei natürlich in ganz unterschiedlichen Positionen.

Schließlich ist Brügger Rechtshänderin. Ihre linke Hand muss also das Schreiben, das Beherrschen von Buchstaben und Wort, das oben beschriebene Schaffen von Welten, mühsam erlernen. Was zunächst ein wenig schizophren scheint, ist lediglich eine Reflexion der eigenen Tätigkeit, eine Bremse, die allzu Artifizielles, Abgehobenes verhindern soll. Wenn sich die linke, schreibunerfahrene und die rechte, routinierte Hand schreiben, denken also ein welterfahrener und ein eher infantiler Teil ihrer Persönlichkeit über die Erfahrungen nach, die sich aus der Installation der „Ursuppe“ auf Schloss Corvey ergeben. Die Beherrschung der Kulturtechnik des Schreibens muss dabei auf materiellem und philosophischem Niveau erprobt werden. Hinzu kommt ein Stempel, der die gelungene Ausführung der Schreibarbeiten lobt. Dieser Stempel trägt das Auge Gottes und den Schriftzug „fein“. Augenzwinkernd wird der liebe Gott zum Oberlehrer  und religiöses Empfinden als Konditionierung erfahrbar. Auch hier zeigt sich letztlich wieder Brüggers kritische Position gegenüber unkritischem Glauben. Dabei will sie aber den Glauben keinesfalls denunzieren, im Gegenteil. Glaube, Visionen, Ideen oder Träume sind die Ingredienzien, die im Menschen kreative Energien freisetzen können.

Die Ursuppe liefert die Energie dafür.

Daniel Neugebauer 2009


1 Damit stellt sich ein Bezug zu Marcel Duchamp her, der 1917 erstmals ein industriell gefertigtes Objekt, nämlich ein Urinoir, als Kunstwerk ausstellte. Dieses Objekt ist oft missverstanden worden. Häufig hört  man, es ginge bei Duchamps “Fountain” darum, dass ein Künstler alles zur Kunst erklären kann und darf. Dass sein Schöpferstatus zu hoch angesetzt sei, dass er eigentlich nichts mehr tun müsse, als gottgleich  zu sagen “Das ist Kunst!“ oder “Das nicht!“. Das greift natürlich viel zu kurz, denn zentral an diesem Werk  ist eine sehr viel sensiblere, unsichere Frage, nämlich “Könnte das Kunst sein?“ oder “Wie müsste eine  Welt aussehen, in der dieses Objekt als Kunst gesehen werden kann?“. Der Künstler versteht sich also  nicht als Hüter einer Wahrheit oder Schöpfer, sondern als Zweifler, als störendes Element, als Ermutiger zum Weiterdenken.

2 Ich benutze diesen Begriff hier, obwohl Elisabeth Brügger kein gefundenes Objekt benutzt, sondern es herstellen ließ. Da sie aber nicht nach künstlerischen Vorgaben produzieren ließ und eigentlich einen bereits produzierten Kessel nutzen wollte, scheint mir das in diesem Kontext legitim.

3 Dabei mag man auch an die “Relational Art” eines Rirkrit Tiravanija denken. Dieser versucht seit Jahren, das Augenmerk der Kunst auf den gemeinschaftlichen Aspekt zu richten, das Zusammenkommen, die Kommunikation. Bekannteste Beispiele hierfür sind die Aktionen, in denen er im Museums- oder Galerieraum Suppe kocht und diese Suppe an die Besucher verteilt. Das kreative Transformieren, aber auch der Genuss und vor allem die Interaktion stehen im Zentrum seiner Arbeit. Ähnliches gilt für    Elisabeth Brügger, die mit ihrer “Ursuppe” eine Art spiritueller “Eat Art” entwickelt.

demokratischer. Jeder, der mitmacht, hat das Wort.

4  Hier wird das Buchstäbliche in Elisabeth Brüggers „Interventionen“  wieder  deutlich,  indem sie nämlich hin und wieder aus der Suppe etwas abschöpft, um sich davon beispielsweise für ihr Tagebuch inspirieren zu lassen. Das Abschöpfen und das Schöpfen gehen eine geradezu ernüchternd unmetaphorische Allianz ein.

5 Ono sieht ihre Aufgabe als Künstlerin auch darin, die Vorstellungskraft von Menschen zu stimulieren. Wenn man sich etwas wünscht, wird man zunächst mit einem Mangel konfrontiert, denn man wünscht   sich ja zumeist etwas, was entweder unsicher oder abwesend ist. Durch das Aufschreiben wird der Gedanke schließlich manifest. Das Binden der Wunschzettel an den Baum macht erstens Spaß und zweitens muss man noch etwas länger mit seinem Wunsch „umgehen“. Dahinter steht die Überzeugung, dass wir nur etwas verändern können, wenn wir uns ein Bild davon machen, wie es besser sein könnte, also Nachdenken und Träumen als Vorstufen zum Handeln.